Gähnen als Entspannungstechnik

Gähnen genießt in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf. Wer gähnt, wird als unausgeschlafen, gelangweilt oder gar unhöflich wahrgenommen. Doch dieser Reflex ist völlig zu Unrecht verpönt. In Sprachtherapien und im Gesangsunterricht macht man sich das Gähnen schon lange zunutze, um Leistungsangst und Hypertonus (zu hohe Spannung) im Rachenbereich zu reduzieren. Als Meditationstechnik ist Gähnen noch nicht so verbreitet. Dabei ist dem US-amerikanischen Hirnforscher Andrew Newberg zufolge Gähnen so ziemlich das Beste, was wir für unser Gehirn tun können.

Bekanntermaßen tritt Gähnen verstärkt bei Müdigkeit auf. Auch durch starke Beleuchtung kann es ausgelöst werden, was nahe legt, dass Gähnen am Aufwachprozess beteiligt ist. Es soll dabei helfen, die Schläfrigkeit zu vertreiben und wach zu bleiben, indem es die Temperatur und den Stoffwechsel des Gehirns reguliert. Man könnte es somit als „Lüften“ des Kopfes bezeichnen. Darüber hinaus wird beim Gähnen der Precuneus aktiviert, der einigen Studien zufolge eine wichtige Rolle für das Bewusstsein, die Erinnerung und die Selbstreflexion spielt. Bei altersbedingten Erkrankungen und Aufmerksamkeitsdefiziten ist dieser Teil des Gehirns mit am stärksten betroffen. Gähnen kann die Funktion des Precuneus positiv beeinflussen.

Es wird angenommen, dass Gähnen soziale Wahrnehmung, Mitgefühl und Kommunikation fördern kann. Diese Fertigkeiten werden durch das Spiegelneuronen-System beeinflusst, das in Verbindung mit oben genanntem Precuneus steht. Wenn man bedenkt, dass Gähnen ansteckend ist, ist es nicht abwegig, es als primitive Form der Empathie zu betrachten. Newberg berichtet sogar von gelungener Streitschlichtung durch Gähnen, was durch die Harmonie stiftende Funktion des Reflexes erklärt werden kann.

Biochemisch betrachtet sind am Gähnen eine Reihe von Neurotransmittern beteiligt (unter anderem Dopamin, Serotonin und körpereigene Opioide), die unser Wohlbefinden, unsere Sinnesfreude und das zwischenmenschliche Verhalten regulieren.

Die positiven Effekte des Gähnens sollten uns ermutigen, das Gähnen nicht nur zuzulassen, sondern bewusst als Entspannungstechnik einzusetzen. Gähnen Sie nicht nur, wenn Sie müde sind, sondern auch dann, wenn Sie Gefühle wie Anspannung, Angst, Wut oder Stress wahrnehmen. Versuchen Sie, sich vor einem wichtigen Gespräch oder einer Prüfung durch Gähnen zu entspannen. Sogar bei einem Jetlag kann Gähnen dabei behilflich sein, die innere Uhr wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Es klappt nicht? Oft kostet es nur ein wenig Überwindung. Nach fünf, sechs Versuchen, ein Gähnen zu imitieren, sollte sich ein echtes Gähnen entwickeln. An der Stelle darf gerne weitergemacht werden. Sollten die Augen zu tränen oder die Nase zu laufen beginnen, so ist das kein schlechtes Zeichen. Im Vordergrund stehen die positiven Gefühle der Präsenz, Entspannung und Wachheit, die durch das Gähnen schneller als mit jeder anderen Entspannungstechnik erreicht werden können.

Übrigens: Erst kürzlich haben Forscher um Andrew Gallup einen Zusammenhang zwischen der Dauer des Gähnens und der Komplexität des Gehirns festgestellt. So gähnen Menschen mit ihren durchschnittlich 11,5 Milliarden Nervenzellen in der Großhirnrinde 6,5 Sekunden lang, Mäuse bei 4 Millionen kortikalen Nervenzellen weniger als eine Sekunde. Auch Tiere, die größer sind als der Mensch, gähnen weniger lange, weil ihre Gehirne nicht so komplex sind. Für ein ausgiebiges Gähnen muss sich also niemand schämen.

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